Autor dieses hervorragenden Buches ist der 1923 geborene Psychoanalytiker Prof. Dr. Arno Gruen. Sein Buch ist ein befreiendes Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit. Bereits im Prolog macht der Autor klar, dass das Bedürfnis nach Gehorsam ein grundlegender Aspekt unserer Kultur darstellt, der der Demokratie wenig nützlich ist.
Was nun ist Gehorsam eigentlich?
Gruen definiert "Gehorsam ist die Unterwerfung unter den Willen eines anderen. Der andere übt Macht über den Unterworfenen aus."
Die Einübung von Gehorsam beginnt bereits in der Kindheit und spielt in unserer Kultur eine weitaus größere Rolle, als wir wahrhaben möchten. Der Autor erwähnt das allseits bekannte Milgram-Experiment, das offenbarte, dass 65% der Versuchspersonen (amerikanischen Mittelklassebürger) zu grausamen Taten bereit waren, wenn der Versuchsleiter sie dazu anhielt.
Dieser Gehorsam hat Ursachen, die in der Kindheit zu suchen sind und steigert sich, sofern Menschen, die den Gehorsam verinnerlicht haben, bedroht oder terrorisiert werden. Dann nämlich neigen sie dazu, sich mit demjenigen zu identifizieren, der sie terrorisiert.
Interessanterweise gibt es einen unerquicklichen Zusammenhang zwischen Treue und Gehorsam. Indem man Treue als moralischen Wert empfindet, den man selbst wählt, so Gruen, verhüllt man jenen Gehorsam, der der Identifikation mit den Mächtigen dient. Treue und Gehorsam wurzeln in der Autorität, die freiwillige Knechtschaft "zu einer bewundernswerten menschlichen Qualität" emporhebt, wie Gruen wohl eher ironisch meint.
Dabei wird der Wert des eigenen Selbst zum Unwert und der Unwert des Unterdrückers zum Wert erklärt. Personen, die ihr eigenes Selbst zum Unwert erklären, werten andere in der Regel ab und sind nicht fähig, empathisch zu sein. Wer aufgrund von Gehorsam handelt, handelt aus Pflichtgefühl aber nicht aus Verantwortungsbewusstsein und versucht zudem Schuld immer bei anderen abzuwälzen, weil ihm Schuldgefühle unerträglich sind.
Gehorsam hat unmittelbar mit Entfremdung zu tun, weil die Gewalt, die unser Eigenes zum Fremden macht, dieselbe ist, die den Gehorsam erzwingt. Wie Gruen hervorhebt, bestimmt das Ausmaß an Gewalt, das der Einzelne erfährt, den Grad seiner Autoritätshörigkeit.
Der Beginn der Entfremdung von eigener Wahrnehmung der Gefühlslage eines anderen liegt wie schon angedeutet in der Kindheit und hier in der frühkindlichen Sozialisation, wobei das Nichtanerkennen des eigenen Seins dazu führt, dass die Erwartungen der Mutter oder des Vaters als Eigenes einverleibt werden und die Nicht-Anerkennung auch später im Erwachsenenstadium als ein Sterben begriffen wird.
Menschen, die eine Entwicklung zum geradezu blinden Gehorsam vollziehen mussten, besitzen keine eigene Identität mehr und machen es zu ihrem Anliegen, andere Menschen zunichtezumachen, deren Identität sich empathisch entfalten konnte, so Arno Gruen. Dieses Phänomen zeigt der Autor an Beispielen auf, so etwa an dem Gestapo-Schlächter Klaus Barbie.
Unterdrückung des Eigenen verursacht Hass und Aggressionen, die sich nicht gegen den Unterdrücker richten dürfen, wenn jemand zum Gehorsam erzogen ist, sondern an andere Opfer weiter gegeben werden.
Gruen zeigt den Zusammenhang zwischen Autorität und Gehorsam sehr gut auf und verdeutlicht, dass das eigentliche Opfer des Gehorsams unser Selbst ist, das zum Fremden in uns wird. Besagtes Selbst wird durch den Gehorsam verzerrt.
Blinder Gehorsam macht es unmöglich, die Wahrheit des gesamten Vorgangs zu begreifen. Letztlich dient der Gehorsam dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen und zudem noch seine Taten zu verschleiern. Insofern untermauert Gehorsam Macht.
Über Wege aus dem Gehorsam denkt Gruen in seinem Buch auch nach, reflektiert zudem Machtstrukturen des Gehorsams in Staatstheorien und veranschaulicht im gesamten Buch bestens nachvollziehbar, wieso man sich nicht für Gehorsam aussprechen sollte. Gehorsam kann Menschen zu Tätern machen, weil die Gehorsamen dazu neigen, empathische Reaktionen zu unterdrücken und aufgrund ihres Mangelns am Selbst zwanghaft nach Macht und Besitz streben und andere zu Opfern machen, weil sie diese dafür beneiden, was sie selbst nicht haben: Mitgefühl und Freundlichkeit und ein unverletztes Selbst.
Sehr empfehlenswert.
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