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Rezension:Menschenkenntnis (Gebundene Ausgabe)

Alfred Adler begreift die Psyche als seelisches Organ, in diesem Sinne eines seelischen Überbaus über dem biologischen Organismus als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit. Für ihn ist sie der Ausdruck eines notwendigen Angriffs-, Abwehr, Sicherungs- oder Schutzorgan der Persönlichkeit. Es ist nicht durch Triebeinflüsse oder Umwelteinflüsse bei Geburt festgelegt. Diese Erscheinungen sind Sekundärphänomene. Das Individuum ist von Natur aus gut. Ihm wohnt ein unauslöschlicher Drang nach Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung als Leitidee oder Ich-Ideal inne. Dafür wohnt dem Individuum ein ebenso entsprechendes Maß an innerer Freiheit inne, um das Ich-Ideal als Sozialwesen in der Gemeinschaft im "Hinblick auf die Ewigkeit zu verwirklichen und so seinem Lebenssinn zu finden."

Für Adler ist nicht ein in der Sexualität respektive der sexuellen Triebhaftigkeit wurzelndes Lustprinzip, sondern ein im Psychischen innewohnedes Geltungs- oder Machtstreben die Triebkraft der psychischen Entwicklung zur Persönlichkeit. Dem Primat des Willens zur Macht zu Folge gewinnt nach den Untersuchungen Adlers das Geltungsstreben eine spezifische Bedeutung als Ausgleichsfunktion bei Organminderwertigkeit, d.h. Minderwertigkeitgefühlen infolge von angeborenen Körperfehlern.

Die Eindämmung des Geltungsstrebens, um die Ausbildung eines parasitären, auf Ausbeutung der Mitmenschen abzielenden Charakters zu verhindern, ist für Adler ein Erziehungsproblem. Für ihn ist Erziehung eine Erziehung zu "verstärktem Wirklichkeitssinn, Verantwortung und Ersatz der latenten Gehässigkeit durch gegenseitiges Wohlwollen, die allerdings nur ganz zu gewinnen sind durch die bewusste Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls und durch den bewussten Abbruch des Strebens nach Macht."


Nachdem Adler sich eingangs ausführlich mit der Seele befasst und in der Folge Minderwertigkeitgefühl und Geltungsstreben ausgeleuchtet hat, beleuchtet er gedanklich das Phänomen "die Vorbereitung fürs Leben" und das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Anschließend wird man mit Adlers Vorstellungen vom Wesen und der Entstehung des Charakters vertraut gemacht.


Er vergleicht die Charakterzüge, die nach seiner Ansicht keineswegs angeboren sind, sondern in der Kindheit erworben werden mit einer Leitlinie, "die dem Menschen wie eine Schablone anhaftet und ihm gestattet, ohne viel Nachdenken in jeder Situation ein einheitliches Persönlichkeitsbild zum Ausdruck zu bringen. Sie ist das Ergebnis eines Kräftespiels, das durch die sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren "Gemeinschaftsgefühl" und "Streben nach Macht" bedingt ist. So ist der Charakter eines Menschen...nie die Grundlage zu einer moralischen Beurteilung, sondern eine soziale Erkenntnis, wie dieser Mensch auf seine Umwelt einwirkt aber auch in welchem Zusammenhang er mit ihr steht. Adler thematisiert Charakterzüge aggressiver Natur: Eitelkeit (Ehrgeiz), Eifersucht, Neid, Geiz und Hass aber auch Charakterzüge nicht aggressiver Natur: Zurückgezogenheit, Angst, Zaghaftigkeit und ungezähmte Triebe als Ausdruck verminderter Anpassung.


Als sonstige Ausdrucksformen des Charakter nennt er: Heiterkeit, Denk- und Ausdrucksweise, Schülerhaftigkeit, Prinzipienmenschen und Pedanten, Unterwürfigkeit, Überheblichkeit, Stimmungsmenschen, Pechvögel und Unglücksraben, Religiosität. Der Psychoanalytiker zeigt wie all diese Charakterzüge durch das Verhalten eines Menschen erkennbar werden, welche Probleme durch sie entstehen können. Auch stellt er Vermutungen an, wie die einzelnen Charakterzüge entstanden sein können. Im Anschluss befasst er sich mit Affekten, die für ihn Steigerungen jener Erscheinung sind, die man als Charakterzüge bezeichnet.


Für ihn sind Affekte zeitlich abgegrenzte Bewegungsformen des seelischen Organs, die sich unter dem Druck einer uns bekannten bzw. unbekannten Nötigung wie eine plötzliche Entladung äußern und wie die Charakterzüge eine Zielrichtung besitzen. Die eine Seite ist auch hier ein Minderwertigkeitsgefühl, ein Gefühl der Unzulänglichkeit, das seinen Träger zwingt alle Kräfte zusammenzunehmen und größere Bewegungen als die sonst üblichen zu vollziehen.


Adler unterscheidet vorwiegend unter dem Gesichtspunkt einer sozialen Kommunikation ausgerichteten psychologischen Denkmodell- zwischen trennenden Affekten wie z. B. Zorn, Ekel, Angst, die das Gemeinschaftsgefühl mehr oder weniger beeinträchtigen und verbindenden Affekten, wie Freude, Mitleid und Scham, wobei Schadenfreude ein Missbrauch darstellt, weil sie das Gemeinschaftsgefühl verletzt, und die Scham einen sowohl verbindenden als auch trennenden Affekt darstellt.

Wer mehr über sich und seine Mitmenschen erfahren möchte, macht gewiss keinen Fehler, wenn er diesen Klassiker Alfred Adlers liest.

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