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Rezension Giorgio Agamben- Nacktheiten

Dies ist das erste Buch des Denkers Giorgio Agamben, das ich bisher gelesen habe. Es enthält neun Essays, die Anleihen in der Bibel nehmen, um Gedankenbilder, die bis in die heutige Zeit hineinreichen, sehr wortreich aufzudröseln. Zunächst hatte ich einige Schwierigkeiten, mich in die barocken Satzgebilde einzufinden, die mich an Satzgebilde von Sloterdijk erinnern und meiner Neigung für Schlichtheit im sprachlichen Ausdruck, wie der Philosoph André Comte-Sponville ihn beherrscht, leider zuwider laufen.

Agamben reflektiert zunächst den Begriff Prophet im Sinne von Vermittler, der bis zum heutigen Tage aus der abendländischen Kultur nicht verschwunden ist, wobei heute allerdings niemand mehr die Position des Propheten vorbehaltlos für sich reklamieren kann (vgl. S.8 ff).


Höchst interessant finde ich seine Überlegungen zur Zeitgenossenschaft. Agamben hat mir mit seinem Essay "Zeitgenossenschaft" klar gemacht, dass ich den Begriff bislang nicht richtig angewandt habe. Er definiert: "Der Gegenwart zeitgenössisch, ihr wahrhaft zugehörig ist derjenige, der weder vollkommen in ihr aufgeht noch sich ihren Erfordernissen anzupassen sucht." Das bedeutet, dass der Zeitgenosse stets unzeitgemäß ist, gleichwohl diese Abweichung es ihm erlaubt, seine Zeit wahrzunehmen und zu erfassen.


Zeitgenossenschaft sei, so der Philosoph, ein spezielles Verhältnis zur Gegenwart. Dieses Verhältnis macht es erforderlich, dass man seinen Blick auf seine Zeit richtet, um nicht deren Glanz, sondern vielmehr deren Finsternis wahrzunehmen, (vgl. S. 26). Zeitgenosse ist demnach derjenige, der die Zeit, in der er lebt, kritisch betrachtet. Agamben erläutert, dass unsere Zeit, die Gegenwart, die fernste Zeit sei und für uns letztlich absolut unerreichbar ist. Wir vermögen uns ihr gedanklich nur bedingt zu nähern und nur dann zeitgenössisch zu sein, wenn wir die Dunkelheit der Gegenwart erkennen und ihr unerreichbares Licht als Tatsache begreifen. Soweit ich Agambern verstanden habe, ist ein Zeitgenosse letztlich derjenige der mit dem Zeitbegriff spielt, ihn zerlegt und transformiert und indem er ihn überwindet, es schließlich schafft, Zeitgenosse des Jetzt, das Vergangenheit und Zukunft impliziert, zu sein.


Es ist unmöglich im Rahmen der Rezension alle Essays zu beleuchten. Der Essay "Nackheit " allerdings ist wohl der wichtigste im Buch und entstand aufgrund einer Performance von Vanessa Beecroft am 8.4.2005.


Die Künstlerin hatte Hunderte nackte, hauptsächlich strumpfhosentragende Frauen in militärischer Geschlossenheit bekleideten Betrachtern gegenübergestellt.


Agamben nimmt das Event zum Anlass, den Begriff Nacktheit zu überdenken und hält fest, dass in unserer Kultur besagte Nacktheit eine unauslöschlich theologische Signatur trägt (vgl. S. 97). Der Autor konstatiert, dass es vor dem Sündenfall wohl eine Unbekleidetheit gab, jedoch das Unbekleidetsein noch keine Nackheit war. Obschon Nacktheit Unbekleidetheit vorraussetzt, ist sie mit dieser keineswegs identisch. Adam und Eva konnten vor dem Sündenfall ihre Nacktheit nicht sehen, so Agamben. Der Grund hierfür scheint die Gegebenheit gewesen zu sein, dass sie in eine Art Gnadenkleid der Anmut gehüllt waren. Bei nicht obszönem Unbekleidetsein, wie Beecrofts Modellen, sind die Frauen im Grunde nicht nackt, sondern tragen wie Adam und Eva das Gnadenkleid der Anmut.


Agambens Reflektionen im Hinblick auf Nacktheit münden in Überlegungen, wie der Mensch fernab von Sündenfall und Gnadenkleid und damit verbundener Scham, mit seinem nackten Körper umgeht. Vielleicht wird er durch die Befreiung von der theologischen Signatur tatsächlich erst wirklich frei.


Sehr bemerkenswerter Lesestoff, der zum Nachdenken anregt.

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