"Kontrollfreaks" haben mich schon immer irritiert. Welches Problem haben solche Menschen? Was treibt sie in ihrem Tun an?
Der Psychotherapeut Dr. med. Bernd Sprenger gibt in diesem Buch detailliert und zufriedenstellend Antworten auf diese Fragen. Der Autor macht gleich zu Beginn deutlich, dass es Menschen gibt, die bereits bei kleinsten Unwägbarkeiten ängstlich reagieren und sich unwohl fühlen. Wenn bei solchen Menschen der Wunsch nach Kontrolle als Folge von Angst geradezu der einzige das Leben noch dominierende Impuls wird, droht eine krankhafte Entwicklung. Es kann zu so genannten Angststörungen mit ständigen Ängsten kommen, die der äußeren Lebensrealität nicht mehr angemessen sind und die Betroffenen im großen Maße im alltäglichen Lebensvollzug behindern können. Bei "Kontrollfreaks" findet ein regelrechter Kampf darum statt, sich selbst zu beweisen, dass man die Kontrolle doch noch hat. Dr. Sprenger mach klar, dass Heilungsprozesse erst dann einsetzen, wenn der Patient akzeptiert, dass er machtlos ist.
Zwanghafte Kontrollrituale können den ganzen Tag ausfüllen und die Quelle großen Leides bei Betroffenen sein, weil sie immer mehr von Angst überschwemmt werden. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Angst biologisch verankert ist, besagter Affekt dem Organismus zur Orientierung über drohende Gefahren dient. Allerdings wird Kontrolle ab einem gewissen Punkt kontraproduktiv und verursacht das Gegenteil dessen, was es bewirken sollte: Ein Zuviel an Kontrolle macht lebendige Prozesse zunichte.
Dr. Sprenger hält fest, dass die Krankentage (Krankenmeldungen beim Arbeitgeber) aufgrund psychischer Erkrankungen sich in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt haben. Die häufigsten dabei festgestellten Diagnosen sind " Depression" und " Angststörung". Menschen, bei denen die Ich-Struktur wenig gefestigt ist, haben das Gefühl zu wenig Kontrolle zu besitzen. Das Fundament zu einer stabilen oder zerbrechlichen Ich-Struktur wird in der frühesten Kindheit gelegt. Wie das funktioniert, erklärt der Autor sehr gut, bevor er sich mit der Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung auseinandersetzt. Hierzu gehört, eigene starke Gefühle aushalten zu können und die Impulse, die von ihnen ausgehen, steuern zu können. Darunter versteht Sprenger, dass eine Person in der Lage ist, den eigenen emotionalen Zustand, die eigenen Bedürfnisse und den Zustand des eigenen Körpers bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren und zu steuern. Der Autor nennt hierfür ein Beispiel:"Ich bin wütend und frage mich, warum ich das bin (auf wen bin ich ärgerlich und aus welchem Grund?). Ich kann entscheiden, was ich mit dem Ärger mache, und ich muss den Ärger nicht blind ausagieren...." Er unterstreicht, dass Menschen, die ein starkes Gefühl nicht in sich halten können, beziehungsweise einen aus diesem sich ergebenden Handlungsimpuls nicht steuern können, an diesem Punkt ein ich-strukturelles Problem haben. Personen, die so "gestrickt" sind, haben über einen zentralen Bereich der eigenen psychischen Funktion tatsächlich wenig Kontrolle.
Der Autor thematisiert im weiteren Verlauf die Kontrolle in zwischenmenschlichen Beziehungen. Dabei sind Schuldgefühle ein mächtiges Mittel, andere zu kontrollieren. Die Methode, Kontrolle über Schuldgefühle auszuüben, ist im Geschäfts- wie im Privatleben nicht selten anzutreffen. Vergessen wir niemals, dass "Kontrollfreaks" einfach sehr angstbesetzte Menschen sind und beurteilen wir ihr Verhalten unter diesem Gesichtspunkt.
Spengler lotet das Phänomen der Macht im Hinblick auf Kontrollzwänge aus und fragt nicht grundlos, ob es möglicherweise einen Zusammenhang geben könnte zwischen unserer derzeitigen narzisstischen Kultur und dem Bedürfnis Kontrolle auszuüben. Zitat des Autors: "Die >>narzisstische Gesellschaft<< (.......)ist nicht sehr beziehungsorientiert in dem Sinne, dass verlässliche und nahrhafte Beziehungen die Regel sind. Der Preis für die Flexibilität, Mobilität und Freiheit, die wir heute genießen, ist durchaus sehr hoch: Wir bezahlen mit einem latenten Vertrauensverlust. "Genau hier beginnen dann die Kontrollzwänge bei ich-schwachen Menschen. Glaubt jemand aufgrund seiner Macht auch vollkommen ängstigende Aspekte seines Lebens vollkommen kontrollieren zu können, kann es dazu kommen, dass er tatsächlich meint, allgemeingültige Gesetze gelten für ihn nicht mehr. Auf diese Weise entsteht eine Form des Grandiositätsgefühls, welches die realistische Wahrnehmung der Grenzen des Machbaren und den Grenzen des Anstandes außer Kraft setzt.
Offenbar sind es gerade die Überängstlichen, die der Droge der Macht verfallen, weil sie die Illusion der Kontrolle massiv nährt. Aber man sollte sich bewusst machen, dass letztlich alle Formen der Macht, die das Leben vollständig kontrollieren wollen, früher oder später scheitern. Die Illusion der perfekten Kontrolle macht krank. Alle Versuche perfekte Kontrolle auszuüben, führen früher oder später dazu, dass der Wirklichkeit Gewalt angetan wird. Man sieht dieses Phänomen deutlich in allen Diktaturen.
Das Gegenteil zur Kontrolle stellt Vertrauen dar. Die Fähigkeit Vertrauen zu entwickeln, hängt mit der Bereitschaft zusammen, in einen emotionalen Kontakt mit anderen Menschen zu treten, sich auf Beziehungen einzulassen und sie auch wirklich zu leben. Es ist gar nicht so schwer Dinge geschehen zu lassen. Zwanghafte Kontrolle stiehlt zu viel Lebenszeit und verstärkt bloß die Angst nicht zu genügen. Zwanghafte Kontrolle macht krank.
Dies ist ein sehr gutes Buch, das ich mit großem Interesse gelesen habe. Ich war mir bislang nicht völlig bewusst, wo die Ursachen für zwanghaftes Kontrollverhalten zu suchen sind und ordnete solche Verhaltensmuster ausgeprägten Machtinteressen zu. Ich sah bislang nicht die dahinterstehende Angst der "Kontrollfreaks" und begreife die Ich-Schwäche all dieser Menschen jetzt besser, auch hier im Netz.
Empfehlenswert
Helga König
Onlinebestellung Amazon: Die Illusion der perfekten Kontrolle
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